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10 Ein Fest der Sinne

Wenn nachmittags am Hyde Park die Rede ist von einem „komplexen Abgang“, von Kastanien-Aromen und einem erdigen Bukett, dann geht es keineswegs um Weine. Das Viertel ist ein Himmel für Tee-Connaisseurs – und Karl Kessab ihr Gott des guten Geschmacks. Niemand braut seltene Sorten und Geheimrezepte so auf wie er, Londons einziger Tee-Sommelier.

Juni 10, 2011
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London. „Zum Frühstück trinken Sie Kaffee?“, fragt Karl Kessab ungläubig bis milde entsetzt. Es hilft ja nichts: Die Audienz beim Tee-Papst muss mit der Beichte der allergrößten Sünde beginnen. Zum Glück verzeiht Karl schnell und großmütig – die Erfahrung lehrt ihn, dass viele Kaffee-Junkies sich in nur zwei Stunden beim traditionell-britischen „Afternoon Tea“ bekehren lassen.

Als erster Tee-Sommelier an der Themse erkennt er jeden Aufguss blind. Ob in den großen Silber-Samowaren des Lanesborough Hotel gerade ein Darjeeling, Assam oder Earl Grey zieht – Karl riecht es schon. Woher die Teeblätter stammen, wer sie anbaut, das weiß er spätestens nach ein paar Schlucken. Hunderte Sorten kann sein Gaumen unterscheiden, seine drei Favoriten will er heute servieren.

Dabei geht es nicht nur um wohltemperierten Tee, sondern um das Charisma einer alten Zeremonie und, wie ein Blick auf den Tisch zeigt, um Symmetrie und Perfektion. Im Lanesborough, einem von drei Edelhotels am Hyde Park, in denen der Nachmittagstee als besonders schick gilt, schweben die Kellner lautlos mit einer dreistöckigen Etagere an den Tisch. Drei Gänge korrespondieren mit passenden Tees: Zum ersten, einer Hausmischung aus Darjeeling und Rosenblüten, finden sich um Punkt 16 Uhr auf dem untersten Teller Gurken-, Lachs- und Schinkensandwiches.

Mit kreisenden Bewegungen schenkt der Kellner den „Champagner unter den Tees“ ein: Der Darjeeling leuchtet goldfarben; Milch – „aber nur ein bisschen!“ – erlaubt Karl ausnahmsweise. „Sie verdeckt gewöhnlich das Aroma“, erklärt er. Und räumt gleich mit einer Frage auf, die das Königreich seit jeher in zwei Fronten spaltet: Kommt die Milch oder der Tee zuerst in die Tasse? „Zuerst der Tee“, stellt der Sommelier klar, „sonst kann man die Milch nicht angemessen dosieren.“ Die andere Variante stamme noch aus einer Zeit, in der das Porzellan so dünn war, dass die Tassen zersprungen wären, hätte man den heißen Tee zuerst  eingeschenkt.

Doch der Parcours durch Tassen und Etagere ist auch weiter gespickt mit Etiquette-Fallen. „Und“, fragt Karl, gleich nach dem ersten Schluck seiner Lanesborough-Mischung, „erdig, oder?“ Er ist halbwegs zufrieden, dass man als Tee-Banause wenigstens zustimmt. Die Sandwiches darf man mit den Fingern essen, was sich komisch anfühlt, denn alle sind edel behandschuht – die Kellner und selbst die Griffe der kunstvollen Silberkannen. Auch die warmen Scones, der zweite Gang, dürfen keinesfalls geschnitten, sondern müssen entzwei gebrochen werden. Unter Karls Anleitung löffelt man „erst die ungesüßte Schlagsahne, dann die Marmelade und schließlich ein wenig selbstgemachte Zitronencrème“ auf die Teebrötchen.

Dazu serviert der Kenner einen Weißen Assam-Tee aus Doomur Dullang. „Nur zwei Kilogramm wurden davon hergestellt“, schwärmt der Sommelier, „und ich habe sie gekauft, komplett.“ Karl ist in seiner Teeleidenschaft ziemlich kompromisslos: „Wir erwerben die allerkostbarsten Tees nur aus einem einzigen Grund: Niemand sonst soll sie haben.“ Auch ohne dieses Entrée wäre der Weiße Assam eine einzigartige Erfahrung gewesen, „duftig, perfektes Pfirsich-Aroma“, urteilt Karl, „diese Sorte ist rein von Menschenhand, nicht maschinell, verarbeitet worden.“

Es bleibt der oberste Teller auf der Etagere, gefüllt mit Kuchen-Miniaturen. Für Karl ist es Zeit, die „Rose des Orients“ kommen zu lassen, eine der angeblich weltbesten Mischungen aus Sencha- und Gunpowder-Grüntees, versetzt mit Mohnblumen und Rosen. Nur so viel dazu: Der Aufguss reicht, um Kaffeetrinker zum Tee zu konvertieren.

Für Karl ist die „Rose des Orients“ wie ein Parfüm, das einen „sanfter“ aufwachen lasse als Kaffee. Dieser letzte, augenzwinkernde Seitenhieb musste sein. Karl ist zwar kein Tee-Snob und lobt sogar den Beutel-Tee aus dem Supermarkt, doch über die Vorzüge seines Lieblingsgetränks lässt er nicht mit sich diskutieren: „Tee ist  so komplex wie Wein – nur ohne den Alkohol.“

Das Interesse an seiner Zeremonie im Lanesborough gibt ihm Recht: Am Wochenende ist das Vergnügen auf über einen Monat im Voraus ausgebucht. Doch nicht nur Touristen sind dem Geheimtipp der makellosen, englischen Teewelt auf der Spur. Immer mehr Geschäftsleute entdecken den „Afternoon Tea“ als Alternative zum dienstlichen Dinner. „Es ist angenehmer als ein Geschäftsessen“, sagt Kessab, „denn Tee beendet den Tag früher und auf einer beschwingteren Note.“ Mit rund 35 Euro dürfte das Edel-Event auch günstiger sein als so manch’ teure Weinflasche, die die Londoner Geschäftswelt sonst nach Feierabend leert.

Wenn Karl Kessab am frühen Abend den letzten Samowar leert und die frische Rose vom Revers abnimmt, verfolgt er oft noch im Internet Tee-Auktionen wie ein Pferderennen. Bei einer Tasse marokkanischem Minztee ordert er die nächsten Knospen, Blüten und Blätter fürs Oktober-Teemenü. Dann will er erstmalig Speisen und Tee vermählen: „Earl Grey-Pannacotta“ gilt als Favorit.

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Jasmin Fischer

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