Wenn ein Mensch auf dieser Welt Gras wirklich wachsen hören kann, dann Eddie Seaward. Er hegt, bürstet und beschützt den Rasen von Wimbledon, jenes englische Nationalheiligtum, auf dem in zwei Wochen wieder die Blicke von Millionen Zuschauern liegen. Höchste Zeit für einen Besuch beim Rasenflüsterer, dem vielleicht wichtigsten Mann von Wimbledon.
„Erst kommt das Tennis, dann der Rasen“, sagt Eddie. Oder vielmehr: sagt Eddies Vernunft. Und die Sportwelt. Und die Vorschriften. Eddies Herz jedoch weiß: Wimbledon ist berühmter für sein Gras als die Weltklasse-Spieler. Die wollen meist nicht mehr als einen harten, festen Untergrund zum Sieg, während er als „Head Groundsman“ nach zwanzig Dienstjahren auf der grünen Bühne wie von einem alten Freund spricht.
„Er hat echte Nehmerqualitäten“, sagt Eddie über sein deutsches Weidelgras. Auf allen 41 Plätzen des „All England Lawn Tennis Club“ sprießt seine Lieblingssorte aus dem Lehmboden. Natürlich nicht kreuz und quer wie bei Hobby-Gärtnern, sondern nach den strengen Regeln des Tennis-Mekkas: 8 Millimeter lang sind die Halme, die Farbe nicht zu hell und nicht zu dunkel, kein Moos, kein Unkraut, dafür aber perfekte Rasenmäherstreifen.
Das Ganze sieht mehr nach Skulptur denn Natur aus und bedeutet für Eddies 20-köpfiges Team einen ewigen Kampf gegen die Elemente. Morgens wecken sie das Grün, indem sie ihm die wärmende Decke wegziehen. Kälte oder Feuchtigkeit tun ihm nämlich gar nicht gut. Drückt Frühtau die Halme zu Boden, droht Pilzgefahr und Eddie rückt mit großen Eisenbürsten an, um sie aufzurichten. Dann dürfen Sonne und Wind sie fönen, aber bloß nicht zu lang.
Bemannte Rasenmäher düsen während des Wimbledon-Turniers täglich über die Plätze und kappen die Rasenspitzen um einen halben Millimeter. Pralle Sonne muss das Grün dann genauso aushalten wie harte Bälle, Fußtritte oder Frust-Attacken mit Tennisschlägern nach einer Niederlage. Zwar hält das neue Glasdach über dem Centre Court die gefürchteten Regengüsse ab sofort draußen, bedeutet für den obersten Rasenwart aber neue Unwägbarkeiten: „Die Atemluft der Zuschauer bei geschlossenem Dach, vielleicht auch ihre durchnässte Kleidung, all das könnte das Gras feucht und rutschig machen“, sagt Eddie mit Grabesmiene. Er ist mittlerweile 65 Jahre alt, hat seinen Erfahrungsschatz so kurz vor der Rente bereits an Vize-Grasflüsterer weitergegeben, aber spricht noch immer von einem Mysterium: „Der Rasen lehrt uns jedes Jahr neue Lektionen.““
Gedüngt wird so kurz vor Turnierbeginn nicht mehr. „Das Gras würde zu grün, und zu grün heißt: zu rutschig“, sagt Eddie. Es ist die Zeit für Kosmetik: Ein bisschen Eisen hier und da macht die sprießenden Flächen dunkler. Elektrozäune werden gespannt – gegen Füchsinnen, die gerne mal in Eddies Revier Wasser lassen und so buchstäblich verbrannte Erde schaffen. Zu den letzten Vorbereitungen gehört auch das Anrühren von Rasen-Schminke, Eimerchen voller Lehm, mit dem Helfer während der Spiele Löcher reparieren können. Paste rein, Rasenschnitt obendrauf, fertig. „Die Spieler würden bei einem Wutanfall jedoch eher ihren Schläger als den Rasen beschädigen“, warnt Eddie gelassen.
Er muss das wissen, denn vor Turnierbeginn überprüft er die Grünflächen mit einem Impulshammer auf ihr Rückprall-Potenzial. Schon, um Kritik von Spielern vorzubeugen. Die Plätze seien nicht mehr so schnell wie früher, hieß es mal. Dabei, betont Seaward, habe er es lediglich geschafft, mehr Luftbewegung zwischen die Halme zu geben. „Die Bälle springen also härter und höher“, betont er. Und der schöne „Bounce“ – die Sprungkraft – ist immerhin Hauptlebensziel seines Rasens.
Wenn das Tennis schließlich vorbei ist, geht’s weiter, auf dem Platz und am Telefon, denn regelmäßig sind Hunderte Zuschauer so beeindruckt, dass sie den Groundsman um Hilfe für ihr darbendes Fleckchen Gartengrün anrufen. Dann versucht er ihnen geduldig zu erklären, dass ein Rasenflüsterer keine Telefondiagnosen geben kann: der Boden, das Klima, alles muss bedacht werden.
Eine grüne Regel gilt jedoch immer, egal, ob das Gras in Botswana oder Wanne-Eickel wächst: Mähen, mähen, mähen. Aber richtig! „Die meisten Leute mähen zu selten“, seufzt Eddie. „Im Herbst knallen sie den Rasenmäher in den Schuppen und sagen: Gott sei Dank, bis zum nächstes Jahr.“ Im Frühjahr kürzten sie ihre Wiese dann gleich um eine Handbreit. Eddie verzieht da schmerzvoll sein Gesicht: „Wenn Sie die Hälfte der Halme amputieren, sterben sie natürlich.“ 1-2 Millimeter pro Mähgang sei das Maximum, häufiges Mähen daher Pflicht, „auch im Winter“. Wenn Eddie sich demnächst zum Turnier wieder Tag und Nacht seinen Bio-Kunstwerken widmet, übernimmt Zuhause übrigens Mrs. Seaward seinen strikten Mähturnus. Rasenmäher-Streifen inklusive.
(2009)