Es dauert nicht lange, höchstens ein paar Besuche, und Frau Joachimsmeier wird zum Kunden sagen: „Hömma, können wir uns duzen? Ich bin die Elke.“ So läuft das an der Richard-Wagner-Straße, Ecke Magdeburger Straße in Herne. Und daist es ganz egal,ob der Kunde schnöselig mit seinem Benz vorfährt, fürs Kaugummi einen frisch gebügelten Fünfziger zückt oder ob er Stehbiertrinker, Gassigänger oder Sinti-Kind ist. An „ElkesBude“ ist jeder gleich. Elke weiß, wer Tabak will, Lebenshilfe braucht oder nur ein Schwätzchen, das sind die einzigen Eigenheiten, die sie interessieren, ansonsten ist sie völlig unvoreingenommen gegenüber den Menschen vor ihrer Verkaufsluke.
„Einma die Bild, einma die WAZ.“
„Zweifünfzich. Hamwa uns ’n
paar Tage nich‘ gesehen!“
„Ne, wa nich‘ da.“
„Ja, dann könnwa uns ja auch
nich‘ sehn.“
„Ne, dann geht dat nich‘.“
„Tschüss.“
„Tschüss.“
Rund 8000 Trinkhallen gibt es im Ruhrgebiet noch, Tendenz sinkend. Die meisten von ihnen wurden an Werkstoren für Malocher eingerichtet, die auf Kohlezechen unter Tage oder in der Glut der Stahlwerke schufteten – für all jene, die sauberes Trinkwasser bei schweißtreibenden Schichten brauchten. Die Ära ist vorbei, aber die Büdchen halten sich. Na ja, zumindest so gerade eben. „Reich werden Sie nicht“, räumt Elke unumwunden ein. „Für mich ist das Einkommen genug; aber als mein Mann noch lebte, hat es nicht gereicht.“ Dass sie jetzt in der Mittagszeit mitten in einer Bergarbeitersiedlung, einem Wohngebiet, gutzutun hat, dass sie allen Strukturbrüchen im Revier zum Trotz bald ihr 38. Büdchenjubiläum an dieser Straßenecke feiert, liegt vor allem an ihr. „Nett sein“, mit diesem einen, simplen Wort umreißt sie – und das nur auf hartnäckige Nachfrage – ihr geschäftliches Erfolgsrezept. Man könnte aber auch sagen: Elkes Bude ist Kult, eine Institution, und für ihre Kunden macht ihr Durchhaltevermögen sie zur Heldin.
„Watt hasse an Zigaretten da?“
„L&M hab ich.“
„Watt is mit Chesterfield?“
„Nee, aber wenn ich weiß, datt die
dir lieber sind, dann hol‘ ich die –
nur für dich.“
„Hm, ja, nee, lass ma. Gib mal die
L&M.“
„Watt ist mit deinem Hund? Darf
der ein Leckerchen haben?“
Elkes Bude ist ein Raumwunder. Auf den 25 Quadratmetern gibt es nur ein paar freie Quadratzentimeter, und das ist die Sitzfläche auf dem Stuhl, auf dem Elke gerade nicht sitzt. Im Fenster türmen sich Plastikdosen mit Weingummis, Lakritzen, Kaugummis. Weiße Mäuse, blaue Schlümpfe, Saures. „Saures ist bei Kindern der Renner, selbst bei den Kleinsten, die noch gar nicht richtig sprechen können“, sagt Elke. Rechts neben dem Verkaufsfenster stapeln sich Tabakdosen bis unters Büdchendach. Und hinter Elke türmen sich Zigarettenpackungen, ebenfalls bis unters Büdchendach. Links, bitte mal kurz aus dem Weg gehen, Elke muss vorbei an die Kühltruhe, lagern die Getränke. So sieht der Flüssigmix für die Nachbarschaft aus: ein bisschen was für zwischen Leber und Milz, ein bisschen Cola, ein bisschen Eistee. Dahinter: die Kaffeemaschine im Nonstop-Dauerbetrieb. Wacker, aber vergeblich blinkt sie „Bitte entkalken“ in diese Büdchenästhetik aus dicht an dicht zusammengepackten, ungeordneten Unverzichtbarkeit des Lebens: Katzenfutter, Doppelkorn, Mentholtabak, Glühwein, Chips, Star-Wars-Sticker, eine letzte Konserve Bohnen. „Tabak ist der Verkaufsrenner“, sagt Elke, „dicht gefolgt von Zigaretten.“ Sie selber hat: „14 Mal von heute auf morgen aufgehört zu rauchen.“ Es ist schwergefallen, weil sie im Büdchen den ganzen Tag von der großen Versuchung umgeben ist. Kürzlich war Elke Joachimsmeier an Brustkrebs erkrankt, seitdem ist Schluss mit dem Rauchen, für immer. Manche Kunden haben den Kippen ebenfalls abgeschworen. Um Umsatzeinbrüche muss sie sich dennoch keine Gedanken machen: „Die kommen dann nicht mehr für Zigaretten her, sondern um sich Süßes zu holen. Der Klassiker!“
Mama, ein Eis!“
„Watt, du willz schon wieder ein
Eis?! Na gut. Hol‘ Dir eins.“
„Eineurodreißigbitte.“
Elke ist um die Ecke geboren. Das Büdchen kannte sie. „Eswurde nach dem Krieg aus Trümmersteinen wieder aufgebaut“, sagt sie. „Es war nacheinander eine Heißmangel, ein Imbiss, ein Gemüsestand, ein Kiosk, dann Leerstand, dann kamen wir.“ Das Ding war leergeräumt, hatte keine Heizung, kein Inventar. Hinter der Blende über dem Verkaufsfenster hatte der Vorgänger Jägermeisterflaschen versteckt. Die räumten sie weg und investierten in ein bescheidenes Sortiment: Fünf Bierkästen, die erst verkauft werden mussten, bevor Geld für Nachschub da war, Zigaretten auf Kommissionsbasis. „Die ersten Monate waren sehr sparsam“, sagt sie. Doch die Vorteile des Büdchens spielten die beiden Jungunternehmer voll aus. „Ich hatte Zeitungen, die hatte kein anderer. Und zum Lebensmittelladen gegenüber bin ich voll in Konkurrenz getreten. Der schloss um 18.30 Uhr, ich um 21 Uhr, samstags schloss der um 14 Uhr, ich um 21 Uhr. Es war alles zu, aber ich war da.“ An ihrem ersten Weihnachtstag im Büdchen machen sie 1000 Mark Umsatz.
Ein Twingo hält, der Fahrer tritt
wortlos an den Tresen. Elke legt eine
Schachtel Marlboro hin. Er legt 50
Euro daneben. Sie gibt 42 Euro raus.
Der Mann dreht sich um und geht.
Budendialog, ohne Worte.
Die ersten Jahre in Elkes Büdchen waren die goldenen. Dann wurde es schwer. Ein Getränkeshop öffnete in der Nähe, Tankstellen-Shops kamen hinzu, dann die liberaleren Öffnungszeiten der Supermärkte. Heute lesen die Leute weniger Zeitung, und sollte ihnen abends doch noch nach Lektüre zumute sein, dann müssen sie sich nicht mehr die Schuhe anziehenund zum Büdchen stapfen: Längst gibt es das Internet und dort den Online-Kiosk Blendle, in dem sie sich einzelne Artikel zum Lesen am Computerbildschirm kaufen können, ohne die Couch dafür zu verlassen. Elke Joachimsmeier hat mit ihrem Mann früher von 7 Uhr bis 21 Uhr in der Trinkhalle gearbeitet, jeden Tag, und da sind die Einkäufe im Großhandel noch nicht eingerechnet. Urlaub ist nicht drin, und wenn dann nur getrennt: Einer muss ja im Büdchen bleiben. Doch der Kiosk wirft nicht genug ab, nicht genug für eine ganze Familie. Also steht Elke Joachimsmeier jedes Jahr zusätzlich noch auf Pützchens Markt, verkauft Spielwaren und Heliumballons, in der Adventszeit Schwippbögen aus dem Erzgebirge. 30 Jahre lang. Die harte Realität deckte sich nicht ganz mit ihrem Traum vom sich selbst auffüllenden Wunder-Büdchen. Sie erzählt das ohne Wehklagen. Wer A sagt, muss auch B sagen, oder nicht? Elke Joachimsmeier: „Ein Jahr hat unsere kleine Tochter zu mir gesagt: ‚Och ne, jetzt fängt wieder diese Scheiß Weihnachtszeit an und Du bist wieder nie da.’“ Da schaut Elke, sonst von Berufswegen in keiner Situation um Worte verlegen, hilflos. Über ihrem Kopf baumelt ein Plastik-Schutzengel von der Büdchen-Decke, ein Kundengeschenk. Draußen rumort in der Mittagsstille ein Kind in der Eistruhe. Elke geht zum Fenster, kassieren. Seit ihr Mann tot ist und die Sache mit dem Brustkrebs war, hat sie ihre Arbeitszeit um zwei Stunden am Tag reduziert. Und sie verkauft nicht mehr auf Jahr- oder Weihnachtsmärkten.
Schritte vor der Tür. Die Gassigänger
mit ihren Hunden, wie jeden Tag.
Elke lässt die Kaffeemaschine arbeiten
und bringt Sitzkissen und Hundekekse
raus. Kollektives Schwanzwedeln
am Langneseschild.
„Hömma,
Elke Joachimsmeier
können wir
uns duzen?
Ich bin die Elke“
Kioskbesitzerin
Es gibt wohl niemanden, der Büdchen nicht toll fände. Yps-Hefte mit Urzeit-Krebsen, Kirschcola, saure Pommes: Trinkhallen sind wie lange, warme Sommer ohne Schule oder das ersehnte rote Rennrad unter dem Weihnachtsbaum– eben der Stoff, aus dem ewige Kindheitserinnerungen gemacht werden. Taschengeld oder die 20 abgezweigten Pfennig vom Klingelbeutelgeld für den Kindergottesdienst sind am Büdchen heimlich in Salinos umgesetzt worden. Hier gab’s den druckfrischen Kicker für Papa (und ein Bierchen, von dem Mama nichts wissen durfte) und später heimlich die Bravo für einen selbst (von der weder Papa noch Mama was wissen durften).
„Letztens war ein Herr hier, der seit
Jahrzehnten
woanders wohnt. Er
holt sich wie früher
seine Weingummis“
Letztens war erst wieder ein Herr hier, der seit Jahrzehnten woanders wohnt“, sagt Elke, „aber nun kümmert er sich ab und an um seine Schwester und holt sich bei mir wie früher die Weingummis.“ Sie hat immer einige Papiertüten, und zwar die gleichen, leicht gräulichen wie einst, abgepackt am Fenster liegen. Nicht für die Kinder („die wollen sich immer selbst was aus den Dosen aussuchen“), sondern für die Erwachsenen. Die Tüte gemischtes kostet ein Euro – Lakritze inklusive. Wer heute zum Büdchen geht, der kauft sich auch zwei Minuten ungetrübtes, unbeschwertes Glück. Wo sonst in der Erwachsenenwelt gibt es das so garantiert und leicht und ohne Haken?
„Hallo Georg, ich hab‘ wieder
Buttermilch-Eis.“
„Ne, is‘ nich‘ in der Truhe.“
„Doch, zweites Fach.“
„Bin ich blind?“
„Ich komm‘ raus‘. Da, guckma!“
„Danke dir!“
In Elkes Bude laufen fast alle Fäden des Viertels zusammen. Hier werden Schlüssel für Nachbarn deponiert, hier lernen sich Paare kennen, hier wird auch die Nachricht von der Trennung gleich wieder umgeschlagen. Elkes Büdchen ist Fundbüro, Beichtstuhl, Pinnwand, Packstation, Rastplatz. Reiter auf ihren Pferden machen hier Halt, regelmäßig kommt eine Kindergartengruppe. Als einem Stammkunden letztens nachts der Hund ausgebüchst war, fand er ihn hier, vor der Trinkhalle, wieder: Der Köter saß geduldig an der Tür und wartete in stockfinsterer Nacht auf einen Hundekeks von Elke. Wie blind sie sich mit ihren Kunden versteht, was für ein feinmaschiges soziales Netz das Büdchen spannt, wird immer dann klar, wenn sie mal nicht da ist. Wenn ihre Tochter die Kunden fragt, was sie wünschen, dann müssen manche erst mal nachdenken, welche Zigarettenmarke sie immer an der Bude holen. „Ich lege den Kunden ja ihre Schachtel immer schon hin, wenn ich sie kommen sehe“, amüsiert sich Elke. „Da müssen sie nie überlegen.“ Elke, geh bloß nie in Rente, sagen die Kunden. 100 Stammkunden hat sie, grob gerechnet. Elke schätzt die Lage so ein: „Ich bin jetzt 62. Bis 65 mach‘ ich noch, dann ist Schluss.“ Ein paar Minuten später hat sie sich die Sache noch einmal überlegt: „Ach, vielleicht steh‘ ich hier auch noch in der Bude, wenn ich 80 bin. Das hält mich ja auch frisch.“
„Zigaretten?“
„Ja sicher, wie immer, wir haben
doch eine langfristige Geschäftsbeziehung…“
„Jaja.“
„…so lange, bis der Lungenkrebs
mich holt…“
„Sach das nich!“
„…ne, ne, hast recht. Da iss mir
schon lieber, ich komm untern
Bus!“
Wenn das Ruhrgebiet seine Markenzeichen am 20. August mit einem Büdchen-Feiertag ehrt, will Elke auf jeden Fall dabei sein. Eine Oldtimer-Tour zu den schönsten 50 Buden des Reviers ist geplant. Vielleicht machen sie ja Station in Herne. Ohne große Worte hat sich der Mikrokosmos rund um Elkes Büdchen schon darauf eingestellt, nur mal so, bevor die Kandidaten überhaupt gekürt worden sind. Der Bauer will die Wiese nebenan zum Feiern ausleihen. Elke selbst ist einer Party ja nie abgeneigt. Sie ist sich nur nicht sicher, ob sie die Ehre verdient hat: „Die Bude ist ja eigentlich nur mein zweites Zuhause – mehr nicht.“
Im Netz findet sich das Programm zum Jahr der Trinkhalle 2016 unter:
www.ruhr-tourismus.de/Jahr-der-Trinkhalle. Außerdem bietet der Bochumer Schauspieler Giampiero Piria Kioskwallfahrten im Ruhrgebiet an.