02 Der kalte Frieden von Belfast: Ex-IRA-Kämpfer zeigen Besuchern die Narben der Stadt
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02 Der kalte Frieden von Belfast: Ex-IRA-Kämpfer zeigen Besuchern die Narben der Stadt

Wie ein ehemaliger Kämpfer versucht, den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten zu überwinden

Juni 2, 2011
6 min read

Früher hat Robert McClenaghan für die IRA Geschäfte von Protestanten in die Luft gejagt, heute schwört er Jugendliche auf Frieden ein. Der ist in Belfast aus Beton, nicht aus Zuckerguss gemacht: Immer neue, immer höhere Mauern sichern das Nebeneinander in der Stadt. Reue oder Versöhnung gibt es nicht, und auch McClenaghan hat noch eine Rechnung offen. Auf der alten Mördermeile Falls Road erklärt er, wie Frieden trotzdem funktioniert, irgendwie.

Zügig kommt er uns entgegen, ein blasses, weiches Gesicht, ein schwarzer Trainingsanzug, den Arm schon in weiter Ferne freundlich ausgestreckt. Robert McClenaghan wirkt nicht wie ein ehemaliger Bombenleger, was für Fremde in Belfast gleich die erste Überraschung ist: Hunderte Sprengsätze hat der 53-Jährige für die IRA gelegt, im Untergrund gelebt, Freunde beerdigt, zwölf von 20 Jahren Haftstrafe verbüßt. Ein hässliches Kapitel, das Belfast mit seiner schicken, neuen Innenstadt am liebsten abhaken würde. Wenn nur die Erinnerungen nicht wären.

McClenaghan steht im Schatten des Divis Towers auf der Falls Road, dem Wahrzeichen des Nordirlandkonflikts. Vom Dach des Sozialbaus kontrollierten  Scharfschützen der britischen Armee das katholische Viertel. Als die Menschen hier 1969 anfingen, gegen Diskriminierung durch Protestanten bei Job- und Wohnungsvergabe zu demonstrieren, eskalierte die Situation. „Statt uns vor den Brandbomben der Loyalisten zu schützen, feuerte die Polizei auf uns“, erinnert sich McClenaghan. Neun Jahre alt war er damals, der gleichaltrige Patrick Rooney starb im Kugelhagel. Eine Plakette am Hauseingang erinnert an den toten Jungen, Schussnarben in der Backsteinwand an die Jahre der „Troubles“, die Belfast heute noch im Griff halten.

„Wir waren Kinder“, sagt er, „wir wussten gar  nicht, was die Wörter Katholik oder Protestant bedeuten. Aber wir wussten, dass wir unsere eigene Armee brauchten, wenn die britische Polizei uns nicht schützen würde.“ 1972, mit 13 Jahren, heuert McClenaghan bei der „Provisional IRA“ an, transportiert Waffen zu Tatorten, steht Schmiere. Die Schule schmeißt er, übernimmt mit 16 das IRA-Kommando über einen ganzen Stadtbezirk. Seine Aufgabe: Protestanten die Existenzgrundlage zu zerbomben. Als er 1978 gefasst und verurteilt wird, sagt er: „Knast oder Tod, andere Karriereoptionen gibt es in diesem Konflikt eben nicht.“

All das liegt heute hinter Robert McClenaghan. Er ist frei, wie mittlerweile alle IRA-Kämpfer der alten Garde. Nur was anstellen, mit diesem Kalten Frieden, in den sie entlassen worden sind? Manche haben irgendwo mit einem neuen Namen ein neues Leben begonnen, einige kämpfen als Dissidenten auf eigene Faust weiter. Sie alle fechten Schlachten, die ihnen erst der Frieden aufgebürdet hat: Sie wollen verlorene Zeit wettmachen, trinken oft zu viel, haben Drogenprobleme, werden von ihrer Familie nach langer Abwesenheit wie Fremde behandelt. Die Selbstmordrate rund um die Falls Road gehört zu den höchsten Europas. Der 53-Jährige aber versucht, das neue Belfast zu navigieren – eine Stadt, die selber nur durch Teilung Frieden findet.

Hohe Mauern trennen katholische und protestantische Wohngebiete, über 90 sind es mittlerweile. Die meisten der „Peace Walls“ stammen nicht einmal aus den gefährlichen Konfliktjahren, sondern sind neu, hochgezogen in den Jahren nach dem Karfreitagsabkommen. Und sie wachsen und wachsen, wie in der Howard Street. Auf den hohen Beton haben Anwohner eine Stahlwand gesetzt und auf die Stahlwand noch ein Drahtgitter. Ihre Zimmer müssen im ewigen Schatten liegen, doch nur so fühlen sie sich sicher: „Es fliegen ja immer noch Brandsätze“, erklärt McClenaghan.

Er gibt heute Touren über die Falls Road für politisch Interessierte, erklärt ihnen seine Version des Nordirland-Konfliktes. Ständig blickt man dabei in Straßen, die einfach vor einer Wand enden. Selbst der Friedhof hat eine, tief in der Erde: Katholiken und Protestanten wollen sich auch im Tod nicht näher kommen als im Leben. Deutschen mag das Herz beim Anblick all dieser frischen Mauern sinken, doch 70 Prozent der Belfaster halten sie für absolut notwendig. „Wir nehmen sie gar nicht mehr wahr“, sagt der 53-Jährige achselzuckend. Und überhaupt: Wozu sollte oder müsste man nach „drüben“? Die Katholiken, die Protestanten, sie haben alles, was sie brauchen, auf ihrer eigenen Seite.

Als wir ihn bitten, uns zum Ende einer Mauer zu bringen, um auf die andere Seite sehen können, überlegt er kurz. Dann bringt er uns zum „Checkpoint Charlie“, so heißt im Belfaster Slang eine Straßensperre auf der Springfield Road. Von hier kann man die andere Seite sehen: leere, schmucklose Vorgärten, kleine Häuser, die sich wie Kröten unter dem grauen Winterhimmel ducken. An jedem Laternenmast hängt ein Union Jack, die Flagge des Vereinigten Königreiches. Gastfreundschaft stellt man sich anders vor.

Doch McClenaghan kooperiert neuerdings mit Leuten von drüben – ebenfalls Ex-Häftlingen, seine ärgsten Widersacher von einst. Auch sie leiten politische Touren, aber eben nur auf ihrer Seite. Also bringt der IRA-Mann die Touristen nach seinen 90 Minuten auf der Falls Road zum „Checkpoint Charlie“ und übergibt sie an die Protestanten für Teil 2 der Wahrheit. Wäre es nicht allmählich Zeit für gemeinsame Führungen, Seite an Seite? McClenaghan schaut erschocken: „Wie sollten wir uns denn auf eine Version der Geschichte einigen? Objektivität gibt es hier nicht.“ Schon ihre Doppel-Tour, bis 2010 undenkbar, ist ein Fortschritt.

Nichts würde das brüchige Nebeneinander mehr gefährden, als die Mauern einreißen zu wollen. „Sie sind wie Schmusedecken für uns“, sagt McClenaghan. Annäherung funktioniert in Belfast nur über Distanz, der Alltag nicht durch Vergessen oder Verzeihen, sondern Integration aller alten Wunden. So ist der ehemalige IRA-Aktivist heute gefragter Zeitzeuge für Schulklassen. Denen erzählt er von seiner Einzelhaft, von Käfigen und winzigen Zellen auf Gefängnisschiffen. Eine haben sie im Museum an der Falls Road aufgestellt. „Wiederholt nicht unsere Fehler“, predigt er den Kindern. Die meisten schweigen dann. Manche aber sagen: „Ihr hattet wenigstens Waffen, wir haben nur Spielzeug.“

Draußen kann man ganz bequem Mauern bauen, auch im Kopf, aber Gefühle lassen sich nur schlecht wegzementieren. Niemand weiß das besser als McClenaghan. „Mit dem Friedensabkommen musste ich alle alten IRA-Ideale aufgeben“, sagt er, „das war schwer: Ich war ja zu 110 Prozent überzeugt, dass Töten berechtigt ist.“ Selbstzweifel, Krisen, emotionale Debatten, das alles hat er bewältigt. Echter Seelenfrieden aber entzieht sich auch ihm, solange die Toten noch Fragen haben. Zum Beispiel McClenaghans Großvater. 1971 wurde er getötet. „Ich will wissen, ob es ein Auftragsmord war“, sagt er, „und ob die Drahtzieher heute noch im britischen Polizei- und Militärdienst hohe Funktionen bekleiden.“ Also ist er über seinen Schatten gesprungen und hat sich mit dem Sohn des Mörders getroffen. „Ich hätte Hass oder Rache fühlen müssen“, sagt er, „aber da war einfach nichts.“ Antworten auf seine Frage hat er nicht kommen.

McClenaghan bereut das Bombenlegen nicht. „Wir hatten ja keine Alternative damals“, sagt er, „heute dürfen wir uns engagieren, das ist kein Ausverkauf unserer Ideale, sondern ein guter Deal.“ Also mischt er mit, beim Mieterverband, bei der Beratung für Sozialhilfeempfänger. Die Not in Nord-Belfast ist so groß, dass selbst Protestanten von drüben in die Sprechstunden zur Falls Road kommen. Ihn freut das. Eines hat sich nämlich nie geändert in seinem Leben: Die Hoffnung, dass Irland eines Tages wiedervereinigt und unabhängig vom Königreich ist. Das funktioniert nicht mit Bomben, sondern bei einer Volksabstimmung nur mit Stimmen von jenseits der Mauer.

Gut möglich, dass der 53-Jährige bei den mühsamen Trippelschritten des Friedens diesen Traum nie erlebt. „Doch die Kinder sind heute über E-Mail und Facebook verbunden“, sagt er, „in zwei Generationen ist der Nordirlandkonflikt keine große Sache mehr.“ Einen Durchbruch konnte man kürzlich schon im Alexandra Park vorsichtig bejubeln: Hier hat die Endlos-Mauer zwischen Katholiken und Protestanten ein Tor verpasst bekommen. Wer will, quert die Trennlinie jetzt einfach mit einem Schritt – ohne langen Umweg. Und so könnte es sein, dass Robert McClenaghan eines Tages, wenn die Zeit reif ist, vielleicht doch noch Zeuge des ersten Belfaster Mauerfalls wird.

–  Touren mit ehemaligen IRA-Häftlingen durch Belfast vermittelt die Organisation Coiste: www.coiste.ie

(2013)

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Jasmin Fischer

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